1. Was gilt als Berufskrankheit?
1.1 Listenkrankheiten
Berufskrankheiten sind Krankheiten, die bei der beruflichen Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten verursacht worden sind.[1] Ausschliessliche oder vorwiegende Verursachung bedeutet, dass die Krankheit einen Verursachungsanteil von über 50 % durch die berufliche Tätigkeit aufweisen muss.[2] Die schädigenden Stoffe und Arbeiten sowie die arbeitsbedingten Erkrankungen sind in der Verordnung über die Unfallversicherung (UVV) auf einer Liste als sog. Listenkrankheiten veröffentlicht.[3]
1.2 Generalklausel
Im Rahmen einer Generalklausel gelten auch nicht in der UVV aufgelistete Krankheiten als Berufskrankheiten, wenn sie ausschliesslich oder stark überwiegend durch berufliche Tätigkeit verursacht worden sind.[4] Ausschliessliche oder stark überwiegende Verursachung bedeutet hier, dass die Krankheit einen Verursachungsanteil von mindestens 75 % durch die berufliche Tätigkeit aufweisen muss.[5]
Eine Berufskrankheit gilt als ausgebrochen, wenn eine ärztliche Behandlung in Anspruch genommen wird oder wenn eine Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist.[6]
2. Gilt auch eine Infektion mit COVID-19 als Berufskrankheit?
Die Kurzantwort lautet: Ja, auch COVID-19 kann als Berufskrankheit gelten. Voraussetzung hierzu ist allerdings, dass Ihr berufsbedingtes Risiko, an COVID-19 zu erkranken (relatives Risiko), aufgrund der Aussetzung während Ihrer beruflichen Tätigkeit gegenüber einer Erkrankung ausserhalb der Berufstätigkeit erhöht ist.[7]
Die vorwiegende Verursachung (> 50 %) entspricht einer zweimal häufigeren Wahrscheinlichkeit von COVID-19 betroffen zu sein als die übrige Bevölkerung.[8] Diese ergibt sich aus arbeitsmedizinischen Erfahrungswerten und epidemiologischen Studien.[9] Dies betrifft Personen, die in Spitälern oder Laboratorien einem spezifischen Ansteckungsrisiko durch Pflege infizierter Patienten oder Arbeiten in der COVID-19-Intensivstation ausgesetzt sind.
Laut den Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission Schaden UVG[10] soll das alleinige Arbeiten in einem Spital ohne bewussten Kontakt mit infizierten Patienten nicht genügen für eine vorwiegende Verursachung. [11]
Die stark überwiegende Verursachung (> 75 %) entspricht einer viermal häufigeren Wahrscheinlichkeit von COVID-19 betroffen zu sein als die übrige Bevölkerung.[12] Dabei werden Erfahrungswerte mit anderen Krankheitsfällen verglichen.[13] Die bundesgerichtliche Rechtsprechung ist hier streng und anerkennt eine Berufskrankheit nach der Generalklausel nur selten.[14] Ohne medizinische Erkenntnisse und Erfahrungswerte ist ein solcher zu erbringender Beweis nicht möglich.[15] Gemäss einem 20 Jahre alten Bundesgerichtsurteil müsste es sich um einen mehrfachen, zeitlich längeren und bewussten Kontakt mit bekanntlich infizierten Personen handeln.[16]
Allerdings gilt es, in jedem Einzelfall Argumente und mitbeteiligte Ursachen beruflicher oder privater Ansteckungsmöglichkeiten abzuwägen, welche für oder gegen eine vorwiegende Verursachung bei der beruflichen Tätigkeit sprechen.[17] Nötig ist indessen eine ursächliche Dominanz bei der Arbeit.[18]
Nicht als Berufskrankheit gilt, wenn sich jemand am Arbeitsplatz nur 'zufällig' ansteckt.[19] Ebenfalls unberücksichtigt bleibt die Möglichkeit einer Ansteckung ausserhalb der beruflichen Tätigkeit in der Freizeit.[20] Können die Voraussetzungen zum Nachweis einer Berufsursächlichkeit nicht bewiesen werden, so trägt die erkrankte Person als Ansprecher von Leistungen die Folgen der Beweislosigkeit.[21]
3. Wieso ist die Anerkennung als Berufskrankheit vorteilhaft?
Im Falle von COVID-19 als Berufskrankheit kommt die Unfallversicherung für die Deckung von Behandlungskosten[22] (ohne Selbstbehalt) auf. Weiter zahlt die Unfallversicherung einen Erwerbsausfall: Dieser beinhaltet zunächst ein Taggeld in Höhe von 80 % des versicherten Verdienstes. Dieses ist nicht zeitlich befristet (anders als das Krankentaggeld), sondern läuft solange, als von einer weiteren Behandlung keine gesundheitliche Verbesserung mit Steigerung der Arbeitsfähigkeit mehr zu erwarten ist.
Verbleibt eine längerfristige Erwerbsunfähigkeit, so zahlt die Unfallversicherung eine Rente (ab einem Invaliditätsgrad von bereits 10 %), und zwar - bei bleibender Invalidität - lebenslang.[23]
Gedeckt sind auch die Taggelder, wenn Ihnen der Arzt Quarantäne verordnet.
Verbleibt zudem eine erhebliche körperliche Einbusse, so zahlt die Unfallversicherung eine Integritätsentschädigung.[24]
Die Leistungen der Unfallversicherung sind damit deutlich besser als jene der Krankentaggeldversicherung oder der Invalidenversicherung. Es geht daher um sehr viel bei der Frage, ob eine Berufskrankheit vorliegt.
4. Beispiele für eine Berufskrankheit:
Einem erheblich erhöhten Risiko ausgesetzt sind beispielsweise das Spital- und Pflegepersonal, deren Arbeitstätigkeit unmittelbar mit infizierten Patienten zusammenhängt.[25] Ebenso gedeckt sind Mitarbeitende eines Alters-, Behinderten- oder Pflegeheims im Rahmen der direkten Pflege von infizierten Bewohnern. Zudem gelten auch Arbeitstätigkeiten in Laboratorien und Versuchsanstalten mit einer durch das Coronavirus stark infizierten Umgebung als Berufskrankheit.[26]
Bei beruflichen Tätigkeiten, die nicht auf die Betreuung und Behandlung infizierter Personen ausgerichtet sind, wie es im Detailhandel, beim Hotelreinigungspersonal oder bei der Polizei der Fall ist, dürfte eine Anerkennung als Berufskrankheit schwierig sein.
5. Rechtsweg / Wie wehre ich mich gegen eine Ablehnung, die Erkrankung als Berufskrankheit zu anerkennen?
Nötig für die Anerkennung seitens Unfallversicherung als Berufskrankheit ist zunächst eine "Unfallmeldung" über die Arbeitgeberin. Die Unfallversicherung wird danach den Sachverhalt klären (wann ist jemand erkrankt, wie kam es dazu, was waren die Umstände der Erkrankung, wo hat man sich angesteckt, was waren die beruflichen und privaten Verhältnisse, etc.), oft mittels eines Fragebogens. Die Antworten auf solche Fragen können matchentscheidend sein für / gegen die Anerkennung als Berufskrankheit, ebenso wie Hinweise in den medizinischen Akten (z.B. über Aussagen gegenüber den Behandlern). Es kann daher schon sehr frühzeitig sinnvoll sein, rechtlichen Rat einzuholen.
Verneint die Unfallversicherung eine Berufskrankheit, so kann sie dies mittels "Verfügung" oder formlos tun.
Eine Verfügung eröffnet den Rechtsweg, erlaubt also eine Überprüfung des Entscheids. Eine Verfügung muss innert einer nicht erstreckbaren Frist von 30 Tagen angefochten werden. Nach Ablauf dieser Frist wird die Verfügung rechtskräftig. Diese 30-tägige Einsprachefrist gegen die Verfügung (oder die Frist von 30 Tagen für eine Beschwerde ans Gericht gegen einen negativen Einspracheentscheid) ist unbedingt einzuhalten, nach Ablauf der Frist wird der Entscheid definitiv.
Wenn die Unfallversicherung formlos / ohne Verfügung ablehnt, so sollten Betroffene gleichwohl umgehend per Einschreiben schriftlich protestieren, sie seien damit nicht einverstanden, und eine anfechtbare Verfügung verlangen.
Spätestens im Einspracheverfahren ist der Beizug eines Rechtsbeistands sinnvoll.
6. Abschliessendes
Die künftige Rechtsprechung (Gerichtsurteile) wird zeigen, wohin der Weg geht: Bis dato[27] gibt es noch keine Gerichtsurteile zu Covid'19 als Berufskrankheit.
Entscheidend werden dabei zum einen die Eigenheiten jedes Einzelfalls sein (u.a. Berufstätigkeit, berufliches Ansteckungsrisiko, konkrete berufliche Ansteckungssituation, mögliche alternative Ansteckungsursachen [Arbeitsweg, privates Umfeld]).
Andererseits wird auch eine Rolle spielen, welche epidemiologischen Erfahrungswerte für bestimmte Berufe bestehen, also ob in einem Beruf eine massiv häufigere Ansteckungsgefahr besteht.[28] Diese Zahlen sind heute noch zuwenig bekannt. Sie werden aber die Rechtsprechung beeinflussen.
Betroffene haben einen längeren juristischen Weg vor sich: Die meist gewinnorientierten Unfallversicherungen werden einen sehr strengen Massstab anwenden. In der Praxis kommt es oft vor, dass Gerichte Unfallversicherungen "zurückpfeifen" und die Sachlage anders beurteilen und eine Versicherungsdeckung bejahen, oder mindestens weitere medizinische Abklärungen anordnen.
Gerade im Hinblick auf Langzeitfolgen (Long Covid) kann es sich also lohnen, frühzeitig fachkundigen Rat einzuholen.
Luzern, 19.2.2021
RA Christian Haag, Fachanwalt SAV Haftpflicht- und Versicherungsrecht
[1] Art. 9 Abs. 1 UVG
[2] Traub, BSK UVG, N 37 zu Art. 9
[3] UVV Anhang 1
[4] Art. 9 Abs. 2 UVG
[5] Traub, BSK UVG, N 40 zu Art. 9
[6] Art. 9 Abs. 3 UVG
[7] Traub, BSK UVG, N 38 zu Art. 9
[8] Traub, BSK UVG, N 38 zu Art. 9
[9] Traub, BSK UVG, N 38 und 44 zu Art. 9
[10] Revidiert Ende 2020.
[11] Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission Schaden UV.
[12] Traub, BSK UVG, N 41 zu Art. 9
[13] Traub, BSK UVG, N 46 zu Art. 9
[14] Navigator-Kommentar UVG, N 5 zu Art. 9
[15] Navigator-Kommentar UVG, N 6 zu Art. 9; BGE 126 V 183 E. 4c
[16] Beweis einer COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit, lit. b, koordination.ch, S. 6
[17] Traub, BSK UVG, N 37 zu Art. 9; Beweis einer COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit, lit. a, koordination.ch, S. 5
[18] Traub, BSK UVG, N 37 zu Art. 9
[19] Traub, BSK UVG, N 35 zu Art. 9
[20] Traub, BSK UVG, N 31 zu Art. 9
[21] Traub, BSK UVG, N 36 zu Art. 9
[22] Bis zum Erreichen eines Endzustands, also wenn keine weitere gesundheitliche Besserung mit Steigerung der Arbeitsfähigkeit mehr zu erwarten ist (vgl. Art. 19 UVG, beachte allerdings Art. 21 UVG).
[23] Art. 15 Abs. 3 lit. b UVG; während bei der IV eine Erwerbseinbusse von mindestens 40 % nötig ist.
[24] Diese erreicht rasch einen fünfstelligen Betrag; es handelt sich um eine Einmalzahlung.
[25] Beispiele gemäss Rechtsprechung und Praxis, Infektionskrankheiten, UVG Ad-Hoc-Empfehlung rev. 23.12.2020, koordination.ch
[26] Beispiele gemäss Rechtsprechung und Praxis, Infektionskrankheiten, UVG Ad-Hoc-Empfehlung rev. 23.12.2020, koordination.ch
[27] 19.2.2021.
[28] Vier Mal häufigere Betroffenheit als der Durchschnitt: Traub, BSK UVG, N 46 zu Art. 9