Was tun, wenn die IV nicht vorwärts macht?

    Frage

    Ich bin seit mehr als einem Jahr bei der IV angemeldet. Zwischenzeitlich habe ich die Kündigung des Arbeitsverhältnisses erhalten. Das Krankentaggeld läuft bald aus. Nebst den LongCovid-Beschwerden kommen nun Existenzängste dazu, die gesundheitliche und berufliche Ungewissheit machen mir zu schaffen. Was kann ich tun, damit es bei der IV endlich vorwärts geht?

     

    Antwort

    1. Zeitliche Komponente des Anspruchs auf IV-Leistungen

    Laut der gesetzlichen Konzeption von Art. 28 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) haben Versicherten Anspruch auf eine Rente, die während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig gewesen und nach Ablauf dieses Jahres mindestens 40 % invalid sind. Ein Rentenanspruch entsteht zudem auch, wenn die versicherte Person nach Ablauf der einjährigen Wartezeit gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. c IVG nicht oder noch nicht eingliederungsfähig ist (BGer-Urteile 9C_309/2019 vom 7.11.2019 E. 4.3.1 und 8C_787/2014 vom 5.2.2015 E. 3.2).

    Zudem entbindet die Gewährung von Frühinterventionsmassnahmen die IV nicht von der Pflicht, abzuklären, welche beruflichen Massnahmen nötig sind und allenfalls welche Rentenhöhe in Frage kommt, damit eine bestmögliche Arbeitsintegration erreicht werden kann (BGE 137 V 351 E. 4.2). Vielmehr sollte es ihr gemäss Art. 7d Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 1septies der Verordnung über die Invalidenversicherung (IW; SR 831.201) nach Ende der maximal zwölf Monate dauernden Frühinterventionsphase möglich sein, eine förmliche Verfügung über die Zusprache oder Verweigerung von Eingliederungsmassnahmen (inklusive Taggelder) oder den Rentenanspruch zu erlassen (vgl. BGer-Urteil 8C_478/2016 vom 7.10.2016 E. 4.3.2 mit Hinweis).

     2. Anspruch auf beschleunigte Behandlung

    Nach Art. 29 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV;
    SR 101) haben die Parteien Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist. In sozialversicherungsrechtlichen Verfahren kommt der Raschheit der Entscheidung hohe Bedeutung zu, was darauf zurückzuführen ist, dass- bei leistungsrechtlichen Fragen- regelmässig über den Anspruch auf existenzsichernde Mittel zu entscheiden ist (Kieser, ATSG-Komm., 4. Aufl. 2020, Art. 56 ATSG N 31). Der Anspruch auf ein zügiges Vorantreiben des Verfahrens steht im sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahren indessen in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Untersuchungspflicht der Verwaltung (Art. 43 ATSG). Das Gebot des raschen Verfahrens hat dabei grundsätzlich keinen Vorrang vor dem Untersuchungsgrundsatz. Es darf insbesondere nicht zur Folge haben, dass deswegen der Sachverhalt nicht mit der erforderlichen Sorgfalt untersucht und beurteilt wird (BGer-Urteil 8C_210/2013 vom 10.7.2013 E. 3.2.1).

     

    1. Allenfalls Rechtsverzögerung

    Wenn sich die Invalidenversicherung zu lange Zeit lässt mit einem Entscheid, kann eine Rechtsverzögerung vorliegen:

    Eine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV- sowie gegebenenfalls von Art. 6 Ziff. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ([EMRK; SR 0.101]; BGE 130 1174 mit Hinweisen)- liegt vor, wenn die Invalidenversicherung nicht binnen der Frist entscheidet, welche nach der Natur der Sache und nach der Gesamtheit der übrigen Umstände als angemessen erscheint (sog. Rechtsverzögerung). Für den Rechtsuchenden ist es unerheblich, auf welche Gründe- beispielsweise auf ein Fehlverhalten der Behörden oder auf andere Umstände- die Rechtsverzögerung zurückzuführen ist. Entscheidend ist ausschliesslich, dass die Behörde nicht oder nicht fristgerecht handelt (EVG-Urteil I 436/00 vom 15.11.2000 E. 3a und b; vgl. ferner BGE 124 V 130 E. 4, 117 1a 116 E. 3a). Die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer entzieht sich starren Regeln. Es ist vielmehr in jedem Einzelfall zu prüfen, ob sich die Dauer unter den konkreten Umständen als angemessen erweist. Der Streitgegenstand und die damit verbundene Interessenlage können raschere Entscheide erfordern oder längere Behandlungsperioden erlauben. Massgebend sind weiter der Umfang und die Komplexität der aufgeworfenen Sachverhalts- und Rechtsfragen, die Bedeutung des Streits für die Parteien und ihr Verhalten (BGE 130 I 312 E. 5.2 mit Hinweisen).

     

    1. "Mahnung" des Versicherten ist nötig für Rechtsverzögerung

    Bei der Prüfung der Frage, ob der Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist verletzt ist, ist zu berücksichtigen, dass es dem Rechtsuchenden obliegt, im Rahmen des Zumutbaren die zum Entscheid berufene Verwaltungs- oder Gerichtsbehörde, wenn nötig, darauf aufmerksam zu machen, das Verfahren voranzutreiben oder allenfalls Rechtsverzögerungsbeschwerde zu führen (vgl. BGer-Urteil 9C_418/2009 vom 24.8.2009 E. 1.1).

    Gemäss Art. 56 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1] kann Beschwerde ans kantonale Versicherungsgericht erhoben werden, wenn der Versicherungsträger entgegen dem Begehren der betroffenen Person keine Verfügung erlässt (Abs. 2; (BGer-Urteil 8CJ014/2012 vom 3.7.2013 E. 4).

    Die Rechtsprechung zu Art. 56 Abs. 2 ATSG verlangt für eine Rechtsverzögerung, dass die versicherte Person - ausdrücklich oder zumindest sinngemäss - auf den Erlass einer anfechtbaren Verfügung hingewirkt hat (vgl. BGer-Urteil 9C_24/2010 vom 31.3.2010 E. 2).

     

    1. Sinn und Zweck einer Rechtsverzögerungsbeschwerde

    Das mit der Rechtsverzögerungsbeschwerde verfolgte rechtlich geschützte Interesse besteht darin, einen an eine gerichtliche Beschwerdeinstanz weiterziehbaren Entscheid zu erhalten. Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens ist daher allein die Prüfung der beanstandeten Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung, während die durch die Verfügung oder den Einspracheentscheid zu regelnden materiellen Rechte und Pflichten nicht Prozessthema sind (BGer-Urteil 8C_634/2012 vom 18.2.2013 E. 3.1, EVG-Urteil I 328/03 vom 23.10.2003 E. 4.2 mit Hinweisen).

     

    1. Kosten einer Rechtsverzögerungsbeschwerde

    Ein Gerichtsverfahren gegen die IV über eine Rechtsverzögerung ist keine Leistungsstreitigkeit gemäss Art. 61 ATSG i. V. m. Art. 69 Abs. 1bis IVG (vgl. SVGer-ZH vom 16.07.2021, IV.2021.00130 E. 5.1). Das kantonale Recht kann aber eine Kostenpflicht vorsehen. Üblich sind z.B. im Kanton Luzern Gerichtskosten von Fr. 500 bis Fr. 1‘000. Obsiegt die IV (verneint also das Gericht eine Rechtsverzögerung), muss ihr keine Parteientschädigung bezahlt werden und die Gerichtskosten werden ihr auferlegt.

     

    1. Konkrete Empfehlung

    Damit es in Ihrem Fall vorwärts geht, empfehle ich grundsätzlich folgendes Vorgehen:

    1. schriftlich vollständige Akten der Invalidenversicherung bestellen, inkl. der Akten, die sich allenfalls noch in Bearbeitung befinden ("CD-Rom")
    2. Akten studieren um zu prüfen, was alles gelaufen ist, und wo der Fall bei der IV steht
    3. wenn es "zuwenig zügig vorwärts" geht im Sinn der obgenannten Gerichtspraxis: per Einschreiben an die IV
      • eine Frist von 30 Tagen setzen
      • auffordern, bis zum Datum XY einen schriftlichen Entscheid zu fällen (z.B. über berufliche Massnahmen, Taggeld, medizinische Abklärung, oder Rente - je nach Sachlage)
      • und androhen, dass bei unbenutztem Fristablauf eine Rechtsverzögerungsbeschwerde erhoben werde.

    Das wirkt meistens.

    1. Wenn diese Frist unbenutzt abgelaufen ist, ohne dass ein nachvollziehbarer Zeithorizont für das weitere Vorgehen genannt wird und mit einem baldigen Entscheid zu rechnen ist, kann eine Rechtsverzögerungsbeschwerde geprüft werden. Dazu ist es sinnvoll, Rechtsbeistand beizuholen. Aktenstudium, Prüfung einer Rechtsverzögerungsbeschwerde und Verfassen einer solchen verursachen durchschnittlich Aufwand von 3-6 Stunden, somit Kosten von circa Fr. 1'000 bis Fr. 2'000 - je nach Einzelfall, Umfang der Akten und Komplexität. Heisst das kantonale Gericht die Rechtsverzögerungsbeschwerde gut, so muss die IV meist eine Parteientschädigung bezahlen, welchen einen Grossteil der Anwaltskosten deckt.

     

    Rechtsanwalt Lic. iur. Christian Haag, Fachanwalt SAV Haftpflicht- und Versicherungsrecht, Häfliger Haag Häfliger AG, Luzern, www.anwaltluzern.ch

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